Donnerstag, April 16

Teil 7

Horak trabte voraus, seine Schnauze fest am Boden. Ajatuk folgte ihm froh, sie freute sich auf Usnea und ihre Einführung in die Kräutermedizin und in ihre Götterwelt. Viele Gedanken gingen Ajatuk durch den Kopf. Usnea war noch fest in den traditionellen Vorstellungen verhaftet. Ihre Religion war animistisch, alle Pflanzen und Tiere waren mit einer menschenähnlichen Seele ausgestattet.. Ueber all diesen Geisterwesen gab es gottähnliche Gestalten. Der Mondgott, der das Wetter bestimmen konnte, er hatte Einfluss auf die Fruchtbarkeit der Frauen oder auf das Jagdgeschick der Männer. Die Göttin Sedna war die gefürchtete Meeresgöttin, sie bestimmte über die Tiere, sagte, welche Tiere gejagt werden durften, sie gilt auch als Menschenbeobachterin, sie wusste alles über die Menschen und bei Uebertretungen setzte sich das Unrecht der Menschen als Schmutz in ihr Haar und liess sie zornig werden. Sedna wurde mit Respekt behandelt und jeder Schamane musste eine Seelenreise zu ihr unternehmen und ihr langes schwarzes Haar kämmen, um sie von den menschlichen Verunreinigungen zu befreien. So wurde Sedna besänftigt,und sie erlaubte den Menschen wieder, sich von den Tieren des Meeres zu ernähren. Noch heute träufeln die Inuits jeder gefangenen Robbe etwas Wasser ins Maul als Dank für Sedna.
Ajatuk wusste, dass Usnea fest mit dem Schamanismus verbunden war, sie erlaubte keine christlichen Anschauungen, was für Ajatuk gelegentlich schwierig war. Sie war im christlichen Glauben erzogen worden, ihre Eltern gingen in der hellen Jahreszeit oft in die Kirche. Ajatuk selbst hatte der grossen Christusfigur auf dem Altar Socken gestrickt, da es in der Arktis doch sehr kalt ist. Diese Socken waren blau geringelt und Ajatuk freute sich jedesmal daran in der kleinen Kirche in Qaanaaq. Die meisten Inuits waren christianisiert und feierten die christlichen Feste, hielten aber daneben auch an gewissen alte Ritualen fest.
Das Weltbild Usneas, wo Himmel und Erde auf Weltstützen ruhen, und es keinen Anfang gab war für Ajatuk fremd, und sie hatte viele Fragen dazu. Ajatuk kannte den Globus, die moderne Welt, die modernen Wissenschaften. In der kleinen Dorfschule hatte sie viel darüber gehört. Sie interesssierte sich sehr für Naturwissenschaften und quälte die Lehrerin oft mit Fragen, löcherte sie direkt mit ihrer Neugier. Aber auch viele Fragen nach dem Uebernatürlichen waren für Ajatuk wichtig. Ihre Eltern konnten ihre diesbezügliche Neugier nicht stillen. Sie wusste, dass Schamanen als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits auftreten und Kontakt mit längst Verstorbenen aufnehmen konnten. Mit ihren Eltern hatte Ajatuk oft über diese Verschiedenheiten gesprochen und ihnen auch versprechen müssen keine diesbezüglichen Rituale mitzumachen. Für ihre Familie war Usnea zuständig für die Heilung von Kranken, Hilfe für gebärende Frauen aber auch für unfruchtbare Frauen. Für all die anderen Rituale, wie Wetterzauber, Wahrsagungen, Fürsprachen bei der Göttin Sedna, vor allem aber auch entrückte Reisen zu Sedna sollte Ajatuk sich zurückhalten.
Nun freute sie sich einfach auf ihr Geburtstagsfest bei Usnea und festen Schrittes traten sie bei Usnea ein. Usnea erwartete die beiden freudig und hielt sowohl für Ajatuk einen Trunk als auch für Horak eine Schale bereit. Usnea hatte ihr bestes Robbenfellkleid angezogen an dem viele Taschen hingen, die gefüllt schienen mit allerlei getrockneten Pflanzen, Tierknochen. Ein Räucherdampf stieg aus einem Kochtopf hoch, ein kleines Feuer brannte in der Ecke, getrocknete Pilze und Flechten lagen auf dem Tisch.
Usnea trommelte leise auf ihrer Schamanentrommel und mit einem tiefen Singsang begann sie Ajatuk in Trance zu setzen. Sie erklärte ihr, dass sie sie nun in ihre Geistersprache einführen werde, und sie dann Götter und Geister aufrufen werde und mit ihnen in Kontakt treten könne. Der Höhepunkt sei die ekstatische Reise zu Sedna auf den Meeresgrund.
Ajatuk begann sich zu fürchten, konnte sich aber kaum mehr bewegen, ihr kamen die Ermahnungen der Eltern in den Sinn, doch sie war nicht mehr kräftig genug umzukehren. Der eingenommene Trunk machte sie wie gelähmt, die Glieder konnte sie kaum bewegen, sie waren bleiern schwer. Ihr Kopf war wie in einer Wolke, sie sah grelles Licht und spürte den angenehmen Geruch des Dampfes aus dem Kochtopf. Haruk lag auf einem Robbenfell mit gläsernen Augen. Usnea erklärte Ajatuk, dass sie anschliessend eine lange Zeit in Einsamkeit zubringen müsse, um Kontakt mit Hilfsgeistern, das sind die Geister Verstorbener, aufzunehmen und erst dann könne sie eine Hilfs-Schamanin werden und bei Usnea bleiben.
Alles drehte sich in Ajatuks Kopf, sie hatte nur den einen Gedanken, sie musste fort mit Horak, dies war nicht ihre Welt. Dieser Wille wurde stärker und stärker. Es war heiss im Iglu, Ajatuk zog ihr warmes Kleid aus. Die Tür war noch offen, nur mit Socken und einem Hemdchen bekleidet stürmte sie aus dem Iglu in die Nacht. Sie will Horak mitnehmen, doch dieser ist nicht mehr hier.