Usnea und Ajatuk stiegen schweigend aus der dampfenden Quelle und zogen ihre warmen Fellkleider im Scheine des Feuers an. Die Nacht war immer noch bissig kalt, doch begann es bereits leicht zu Dämmern. Die Polarlichter waren nicht mehr sichtbar, Nebel war aufgestiegen. Die beiden Frauen schauten sich an, eine innere Uebereinstimmung herrschte und ohne Worte stiegen sie langsam weiter den Berg hinan. Ajatuk war vorne, eine innere Kraft trieb sie voran, sie zweifelte nicht den richtigen Pfad zu finden zu Horak.
Das Gehen war mühsam, sie sanken ein bei jedem Schritt, der Schnee knirschte. Auf einem grossen Stein, der aus dem Schnee ragte machten sie nach zwei Stunden Marsch einen kurzen Halt. Sie setzten sich hin. In ihrer Nähe trabte eine magere Polarfüchsin vorbei, in der Schnauze trug sie eine kleine Maus. Wahrscheinlich ging sie zum Bau zurück, wo ihre Jungen warteten auf die Beute. Polarfüchse konnten dank ihrem ausgezeichnet guten Gehör die Mäuse unter der Schneedecke wahrnehmen und es war immer lustig ihnen zuzusehen. Ajatuk erinnerte sich, wie sie oft stundenlang den Füchsen beim Mäusefangen zuschaute, wie sie hochsprangen und an einem bestimmten Punkt im Schnee gruben und manchmal eine voreilige Maus erbeuteten. Die Polarfüchse waren nicht am oberen Ende der Nahrungskette, weshalb sich der Fuchs dauernd umsah und vergewisserte in Sicherheit zu sein. Und wirklich oben bei den letzten Bäumen konnten sie schwach sehen, wie einige junge Füchslein der Mutter entgegenkamen, wie drollig sie aussahen und wie verspielt sie noch waren.
Usnea hielt Ajatuks Hand und sagte ihr, wie stolz sie auf sie sei und dass alles gut werde und seinen richtigen Lauf nehme. Aber jetzt müssten sie weiter suchen. Ajatuk hatte ihre jugendlichen Kräfte wieder erlangt und sprang leichtfüssig auf und hastete den Berg hinauf gegen den grossen Gletscher, der von der riesigen Eisplatte hinunter zum Meer floss. Sie sahen bereits die riesigen Eismassen, die sich am Rand auftürmten. Im fahlen Morgenlicht schimmerte das ewige Eis bläulich, gefährlich unnahbar. Hier an dieser steilen Felswand sah das Gletschereis wie ein riesiger gefrorener Wasserfall aus. Hie und da hörten sie das tiefe Grollen eines Eisabbruches und sahen grosse Eisbrocken hinunter fallen und auf dem flacheren Eisstrom aufprallen und zerschellen.
Ajatuk und Usnea standen am Abgrund und sahen tief in den Schlund des Gletschers. "Horak, Horak, wo bist du?" rief Ajatuk mit durchdringender klarer Stimme. Ueber ihnen sahen sie eine weitere riesige Felskante, die über dem Gletscher vorsprang. Darauf stand eine junge Eisbärin und starrte in die Tiefe. Sie fauchte, als sie die Frauen sah. Ajatuk durchfuhr es wie ein Blitz; war Horak mit dieser Eisbärin zusammen weggelaufen, hatte ihn der Ruf der Wildnis eingeholt? War sie eifersüchtig? Ajatuk musste sich eingestehen, dass sie nie an so etwas gedacht hatte, Horak gehörte zu ihr für immer. Sie wollte später darüber nachdenken, jetzt mussten sie Horak finden.
Trotz knurrender Warnung der Eisbärin stiegen die beiden Frauen weiter hinauf zu der jungen Eisbärin und da sahen sie ganz unten in der Tiefe, in einer tiefen Gletscherspalte Horak stecken. Sein Kopf war leicht geneigt, die Augen schauten starr nach oben, er bewegte sich noch etwas und als er Ajatuk hörte und sah, versuchte er einen knurrenden Laut, doch es kam nur ein leises Röcheln aus seiner Schnauze. Dieser Ton war jedoch ausreichend, dass die junge Eisbärin die Situation erkannte und merkte, dass die beiden Frauen zur Rettung Horaks hier waren, dass sie keine Feinde waren.
Usnea und Ajatuk beratschlagten kurz, Usnea reichte Ajatuk den letzten Schluck des stärkenden Trunkes und Ajatuk rannte, schlitterte und kollerte den Berg hinunter in die Eisebene, die immer noch Nebelverhangen war. Erneut kam sie an der heissen Quelle vorbei und dankte in Gedanken der Göttin Sedna, dass sie mit Hilfe der Trance, Horak finden durfte.
In weiter Ferne hörte Ajatuk den aufgestellten Suchtrupp der Inuits aus Quaanaak. Diese waren schon die ganze Nacht unterwegs und hatten alle Hoffnung aufgegeben, Ajatuk zu finden, und nun hörten sie ihre Stimme. Ajatuks Eltern Nuka und Anouk schlossen ihre Tochter in die Arme. Freudig erleichtert hörten sie der Geschichte Ajatuks zu und beschlossen, ihr zu helfen Horak zu befreien.