Ajatuk weiss nicht, wie lange sie geschlafen hat. Sie fühlt sich wohl und
ausgeruht. All die Sorgen, all die Ängste scheinen wie weggeblasen. Die Vertrautheit
und Güte von Usnea haben ihr Vertrauen in die alte Freundin zurückgebracht. So
fällt es ihr leicht, von ihren Zukunftsplänen zu berichten. Usnea hört ihr mit
scheinbar abwesendem, irgendeinen Punkt in der Ferne fixierendem Blick zu. Ajatuk
beginnt immer begeisterter davon zu erzählen, wie sie mithelfen wolle, die Jahrtausende
alte traditionelle Kultur mit der modernen westlichen Lebensweise zu verbinden.
Schweigend vernimmt die alte Schamanin die Worte des jungen Mädchens, in das
sie so grosse Hoffnung und all ihre Vorstellungen und Träume gesetzt hatte. Schliesslich
endet Ajatuk ihre Ausführung und will von Usnea wissen, ob sie das nicht eine
tolle Idee fände. Usnea schweigt. Ganz in sich versunken, gleichsam in
Zwiesprache mit sich oder mit Sila, dem höchsten Wesen, der Gemeinsamkeit aller
Seelen,- der menschlichen, der tierischen, aber auch der Seelen der Berge. Ajatuk
betrachtet ihre alte Freundin. Erstmals gewahrt sie die tiefen Furchen, die
Wind und Kälte, Sonne und Sorgen im Laufe der Jahrzehnte in ihr Antlitz
gegraben haben. Erstmals sieht sie die Zahnlücken, die vom Alter gezeichneten
knotigen Finger. Wie klein Usnea und zerbrechlich ist. Sie war ihr immer gross
und stark vorgekommen.
Mit Rührung und Liebe schaut sie in die dunklen, eingefallenen Augen,
die so viel in ihrem Leben mitangesehen haben. „Usnea,
was sagst du zu meiner Idee?“ Ganz behutsam und zaghaft stellt sie ein weiters Mal
die Frage. Wie aus einer anderen Welt, mit gepresster Stimme, antwortet ihr Usnea.
Sie spricht davon, wie das Urvolk der Arktis, Ajatuks Volk, Kulturtechniken
entwickelt hätte, die das Überleben in dieser menschenfeindlichen Umgebung
ermöglicht habe. Wie dann Fremde in ihr unberührtes Eisreich eingedrungen und
sich als Herren aufgeführt und ihnen die Identität genommen, ja, gestohlen
hätten. Wie das verlorene Selbstbewusstsein, wie der Verlust angestammter
Traditionen zu Alkohol- und Drogensucht, zu Gewalt gegenüber anderen und gegenüber
sich geführt und das Volk entwurzelt und in Verelendung gebracht habe. Vielleicht
sei es tatsächlich ein Weg des Segens, den Ajatuk zu gehen wünsche. „Ja, gehe
diesen Weg! Ich helfe dir dabei.“ Mit Tränen der Rührung, der Dankbarkeit und
der Liebe umarmt Ajatuk die alte Schamanin, die wohl eben die längste und
beschwerlichste Wegstrecke in ihrem langen Leben zurückgelegt hatte. Den verbindenden,
versöhnlichen Schritt von Altem und Neuem.
„So, nun wollen wir aber schauen, wo Horak ist. Komm, lass uns gehen!“