Mittwoch, April 22

Teil 10


 

Ajatuk weiss nicht, wie lange sie geschlafen hat. Sie fühlt sich wohl und ausgeruht. All die Sorgen, all die Ängste scheinen wie weggeblasen. Die Vertrautheit und Güte von Usnea haben ihr Vertrauen in die alte Freundin zurückgebracht. So fällt es ihr leicht, von ihren Zukunftsplänen zu berichten. Usnea hört ihr mit scheinbar abwesendem, irgendeinen Punkt in der Ferne fixierendem Blick zu. Ajatuk beginnt immer begeisterter davon zu erzählen, wie sie mithelfen wolle, die Jahrtausende alte traditionelle Kultur mit der modernen westlichen Lebensweise zu verbinden. Schweigend vernimmt die alte Schamanin die Worte des jungen Mädchens, in das sie so grosse Hoffnung und all ihre Vorstellungen und Träume gesetzt hatte. Schliesslich endet Ajatuk ihre Ausführung und will von Usnea wissen, ob sie das nicht eine tolle Idee fände. Usnea schweigt. Ganz in sich versunken, gleichsam in Zwiesprache mit sich oder mit Sila, dem höchsten Wesen, der Gemeinsamkeit aller Seelen,- der menschlichen, der tierischen, aber auch der Seelen der Berge. Ajatuk betrachtet ihre alte Freundin. Erstmals gewahrt sie die tiefen Furchen, die Wind und Kälte, Sonne und Sorgen im Laufe der Jahrzehnte in ihr Antlitz gegraben haben. Erstmals sieht sie die Zahnlücken, die vom Alter gezeichneten knotigen Finger. Wie klein Usnea und zerbrechlich ist. Sie war ihr immer gross und stark vorgekommen.                                                                                                                                                                   Mit Rührung und Liebe schaut sie in die dunklen, eingefallenen Augen, die so viel in ihrem Leben mitangesehen haben.                                                                                                                                                                   „Usnea, was sagst du zu meiner Idee?“ Ganz behutsam und zaghaft stellt sie ein weiters Mal die Frage. Wie aus einer anderen Welt, mit gepresster Stimme, antwortet ihr Usnea. Sie spricht davon, wie das Urvolk der Arktis, Ajatuks Volk, Kulturtechniken entwickelt hätte, die das Überleben in dieser menschenfeindlichen Umgebung ermöglicht habe. Wie dann Fremde in ihr unberührtes Eisreich eingedrungen und sich als Herren aufgeführt und ihnen die Identität genommen, ja, gestohlen hätten. Wie das verlorene Selbstbewusstsein, wie der Verlust angestammter Traditionen zu Alkohol- und Drogensucht, zu Gewalt gegenüber anderen und gegenüber sich geführt und das Volk entwurzelt und in Verelendung gebracht habe. Vielleicht sei es tatsächlich ein Weg des Segens, den Ajatuk zu gehen wünsche. „Ja, gehe diesen Weg! Ich helfe dir dabei.“ Mit Tränen der Rührung, der Dankbarkeit und der Liebe umarmt Ajatuk die alte Schamanin, die wohl eben die längste und beschwerlichste Wegstrecke in ihrem langen Leben zurückgelegt hatte. Den verbindenden, versöhnlichen Schritt von Altem und Neuem.

„So, nun wollen wir aber schauen, wo Horak ist. Komm, lass uns gehen!“