Ajatuk war ein ganz besonderes Mädchen. Sie war ein feingliedriges
Kind. Neben ihren beiden kräftigen Brüdern erschien sie immer besonders zart, und doch erfüllte sie ein unbändiger Lebenswille und eine fast übernatürliche
Kraft. Nuka erinnerte sich, wie Ajatuk ihren Bruder Minik pflegte und bei ihm
sass, als er todkrank auf seinem Lager im Iglu lag. Minik war von einem
hungernden Wolf angefallen worden und hatte eine tiefe Bisswunde im Arm. Der
Arm war geschwollen, die Wunde infiziert. Alle gaben Minik auf, Nuka
verbrauchte seine letzten Ersparnisse, um Hilfe für Minik zu holen. Anouk war
verzweifelt; der Schamane aus dem hohen Norden hatte Salbenverbände aufgelegt, gekochte
Säfte aus Rindern und Wurzeln verabreicht und geheimnisvolle Zeremonien
durchgeführt. Fiebernd lag Minik da und stammelte undeutliche Worte im
Delirium. Sein Puls war kaum noch spürbar, kalte Schweissperlen drangen unter
seinem schwarzen Haar hervor. Die ganze Familie sass um Miniks Bett. Da setzte
sich Ajatuk ganz nahe zu ihrem Bruder, legte ihre Hand auf Miniks Wunde und
begann mit tiefer vibrierender Stimme zu singen. Immer eindringlicher erklangen
ihre Laute. Die Eltern und Brüder kannten diese Töne nicht und wurden langsam
schläfrig. Minik bewegte sich nicht. Eine unheimliche Ruhe lag im Iglu, das
Feuer war ausgegangen. Schemenhaft sahen die Eltern die rhythmischen Bewegungen
Ajatuks und hörten ihre seltsamen Lieder, die das ganze Iglu erfüllten. -- Am nächsten Morgen öffnete Minik die Augen,
sie waren klar, das Fieber war weg, sein Bewusstseinszustand hell und wach.
Ajatuk lag neben ihm und schlief tief. Minik erholte sich rasch, sein Arm
heilte. Seither verbindet Minik und Ajatuk eine tiefe Freundschaft, fast eine
Seelenverwandtschaft. Sie verstehen sich blind, fast ohne Worte.
Dies alles ging Nuka durch den Kopf als er den kleinen erschöpften
Eisbären zu Ajatuk brachte. Ajatuk nahm den kleinen fast leblosen Eisbären in
ihre Arme. Sie konnte ihn nur mit Hilfe Nukas heben, so schwer war er. Sie
legten ihn auf ihre einfache Bettstatt und Ajatuk flösste ihm etwas Wasser ein,
dann verschwand sie. Nach einigen Stunden war sie wieder im Iglu mit einem
Trunk ihrer Freundin Usnea. Ajatuk und die seltsame Kräuterfrau Usnea waren
Freundinnen geworden. Ajatuks Eltern sahen zwar den Umgang ihrer Tochter mit
dieser Alten nicht gerne, doch war es schwierig, Ajatuk etwas zu verbieten. Sie
setzte ihren Willen meist durch. Im Dorf munkelte man die seltsamsten
Geschichten über Usnea. Der kleine Eisbär wurde rasch kräftiger und ein
unermüdlicher Begleiter Ajatuks. Sie gab ihm den Namen Horak. Die beiden wurden
ein unzertrennliches Paar.