Donnerstag, April 2

Teil 3


Ajatuk war ein ganz besonderes Mädchen. Sie war ein feingliedriges Kind. Neben ihren beiden kräftigen Brüdern erschien sie immer besonders zart, und doch erfüllte sie ein unbändiger Lebenswille und eine fast übernatürliche Kraft. Nuka erinnerte sich, wie Ajatuk ihren Bruder Minik pflegte und bei ihm sass, als er todkrank auf seinem Lager im Iglu lag. Minik war von einem hungernden Wolf angefallen worden und hatte eine tiefe Bisswunde im Arm. Der Arm war geschwollen, die Wunde infiziert. Alle gaben Minik auf, Nuka verbrauchte seine letzten Ersparnisse, um Hilfe für Minik zu holen. Anouk war verzweifelt; der Schamane aus dem hohen Norden hatte Salbenverbände aufgelegt, gekochte Säfte aus Rindern und Wurzeln verabreicht und geheimnisvolle Zeremonien durchgeführt. Fiebernd lag Minik da und stammelte undeutliche Worte im Delirium. Sein Puls war kaum noch spürbar, kalte Schweissperlen drangen unter seinem schwarzen Haar hervor. Die ganze Familie sass um Miniks Bett. Da setzte sich Ajatuk ganz nahe zu ihrem Bruder, legte ihre Hand auf Miniks Wunde und begann mit tiefer vibrierender Stimme zu singen. Immer eindringlicher erklangen ihre Laute. Die Eltern und Brüder kannten diese Töne nicht und wurden langsam schläfrig. Minik bewegte sich nicht. Eine unheimliche Ruhe lag im Iglu, das Feuer war ausgegangen. Schemenhaft sahen die Eltern die rhythmischen Bewegungen Ajatuks und hörten ihre seltsamen Lieder, die das ganze Iglu erfüllten. --  Am nächsten Morgen öffnete Minik die Augen, sie waren klar, das Fieber war weg, sein Bewusstseinszustand hell und wach. Ajatuk lag neben ihm und schlief tief. Minik erholte sich rasch, sein Arm heilte. Seither verbindet Minik und Ajatuk eine tiefe Freundschaft, fast eine Seelenverwandtschaft. Sie verstehen sich blind, fast ohne Worte.

Dies alles ging Nuka durch den Kopf als er den kleinen erschöpften Eisbären zu Ajatuk brachte. Ajatuk nahm den kleinen fast leblosen Eisbären in ihre Arme. Sie konnte ihn nur mit Hilfe Nukas heben, so schwer war er. Sie legten ihn auf ihre einfache Bettstatt und Ajatuk flösste ihm etwas Wasser ein, dann verschwand sie. Nach einigen Stunden war sie wieder im Iglu mit einem Trunk ihrer Freundin Usnea. Ajatuk und die seltsame Kräuterfrau Usnea waren Freundinnen geworden. Ajatuks Eltern sahen zwar den Umgang ihrer Tochter mit dieser Alten nicht gerne, doch war es schwierig, Ajatuk etwas zu verbieten. Sie setzte ihren Willen meist durch. Im Dorf munkelte man die seltsamsten Geschichten über Usnea. Der kleine Eisbär wurde rasch kräftiger und ein unermüdlicher Begleiter Ajatuks. Sie gab ihm den Namen Horak. Die beiden wurden ein unzertrennliches Paar.