Montag, April 6

Teil 5

Usnea lebte schon lange im hohen Norden. Früher war sie oft auf Wanderschaft mit Schlitten und Schlittenhunden und versorgte die kleinen Inuitsiedlungen mit ihrem medizinischen Wissen. Sie konnte bei vielen grossen und kleinen Verletzungen helfen, sie stand den Eskimos in schwierigen Situationen bei, sie half bei Geburten und brachte einige Inuitbabies auf die Welt. Sie half den Müttern. Oft wurden ihr übermenschliche Kräfte nachgesagt und ihre Beziehung zu den Geistern war vielen Menschen unheimlich und doch brauchte man sie im nördlichsten Zipfel Grönlands. Niemand wusste genau, woher sie kam oder wer sie eigentlich war.
Als sie älter wurde, blieb sie in ihrem Iglu in der Nähe Thules, in Qaanaaq, einer der nördlichsten Siedlungen der Welt. Hier leben etwa 600 Leute, fast alle Inuits. Sie führen ein karges, abgeschiedenes Leben. Das kleine Dorf auf dem Eis oder Permafrost ist ihre Heimat, asphaltierte Strassen gibt es keine, sie sind meist Jäger. Wenige Touristen verirren sich auf Abenteuerreisen hieher.
Diese Menschen in Thule leben fast vier Monate im Jahr in eisiger Kälte und in völliger Dunkelheit, dies ist die Polarnacht. Die Sonne bleibt unter dem Horizont. In dieser Zeit der Finsternis kommen die Menschen näher zusammen in ihren Steinhäusern und Iglus, dies ist die Zeit des Geschichtenerzählens. Erst Mitte Februar scheinen die ersten Sonnenstrahlen auf die Gesichter dieser Menschen, darauf freuen sich alle und sie versammeln sich. Die neue Jahreszeit beginnt, nach der völligen Finsternis singen die Menschen in alter Tradition Lieder, die Kinder bimmeln mit Glocken. Nun beginnt der Jahreszyklus von Neuem. Die Sonne steigt täglich höher am Horizont bis zur Sommersonnenwende.
Für Usnea war und ist jedoch die Zeit der Tag- und Nachtgleiche eine magische Zeit, eine glückliche Zeit. Es gibt noch Hell und Dunkel. Hier ist alles in Harmonie, auserlesene Menschen kommunizieren mit den Geistern, die Götter sind den Menschen wohlgesinnt. In dieser Zeit vor 12 Jahren wurde Usnea ins Iglu von Nuka gerufen. Anouk war hochschwanger und lag fiebernd auf ihrer Bettstatt. Blut war auf ihrem Schoss und rann auf den Boden. Der verzweifelte Anouk und die beiden kleinen Söhne Nanuk und Minik standen daneben, sie beteten. Anouk fuhr hoch, krümmte sich erneut vor dem Schmerz der Wehen. Aber die Geburt machte keine Fortschritte. Usnea verlangte nach heissem Wasser, Tüchern und setzte sich zu Anouk. Sie untersuchte sie und machte ein ernstes Gesicht. Die Zeit schritt schleichend voran, Anouk wurde schwächer und schwächer und Usnea holte ihre Zaubermedizin aus der Tasche, braute einen mystischen Trank mit ihrer Sonderflechte, der Fingerscharlachflechte, und unter leisem Murmeln von Zaubersprüchen und mit ätherischen Dämpfen schritt die Geburt voran und am Morgen brachte Anouk die kleine Ajatuk zur Welt. Ein Wunder für die Inuitfamilie und für die Kräuterfrau Usnea. Ein Wunder für beide auf ihre Art. Nuka sank auf die Knie mit der kleinen Ajatuk im Arm und dankte Gott. Sie waren gute Christen.
In Erinnerung an diese Ereignisse hatte Usnea Ajatuk und Horak eingeladen. Sie wollte mit ihnen feiern, Ajatuk die Geschichte erzählen und sie einweihen in ihre Kräuterkunde.