Samstag, April 18

Teil 8





 
"Horak, Horak" ruft Ajatuk mit feiner Stimme, "komm, ich brauche dich!" Die Wolken scheinen sich zu verdichten.
Sie werden immer schwerer. Bald wird es schneien. „Horak! Komm, hilf mir!“  Ajatuks feines Stimmchen verhallt ungehört in der Weite der Eiswüste.                                                                                                                                                        Ajatuk fürchtet sich vor Sedna, die tief unten in den kalten Fluten des Eismeeres wohnt.                                                                                                                                                              Sedna, halb Mensch, halb Wal, ist die Seele des Meeres. Sie hat Macht über die Tiere in ihrem Reich und die Menschen, die von den Meerestieren leben, sind auf ihren guten Willen angewiesen. Ob sie jetzt von Sedna verfolgt wird, weil sie sich geweigert hat, in ihr Reich zu reisen und sie freundlich zu stimmen. Ob sie sich jetzt an allen Männern des Dorfes rächt und keine Jagd mehr gelingen lässt?                                                                                                            Ajatuk fürchtet sich aber auch vor der langen Zeit des Alleinseins, wo sie ausserhalb des Dorfes, getrennt von ihrer Familie und den Freunden, als Schamanennovizin zu leben hätte, um mit Fasten, Meditieren und Steinereiben in Kontakt mit den Hilfsgeistern zu treten.                                                                                                                                                                    Der Trank und der monotone Singsang wirken immer noch nach und lassen Ajatuk in Panik geraten. Völlig ausser sich, die Augen gross aufgerissen, als sähe furchtlos sie in eine andere Welt, stürmt sie vorwärts. Sie hat das Gefühl von Ort und Zeit verloren. So scheint es ihr, sie vermisse Horak schon seit drei Tagen.                                                                                                      „Horak! Komm, ich brauche dich!“ Wenn sie doch nur Horak neben sich hätte, ihn spüren und ihre Seelennöte in seinen flaumigen Pelz schreien könnte! Wenn ihn nur nicht die Hilfsgeister Sedna geopfert haben, um diese gnädig zu stimmen.! 
 
Leise beginnt es zu schneien. Obschon nur mit einem leichten Hemdchen und mit Socken bekleidet, spürt Ajatuk die Kälte nicht. Das stete Fallen der feinen Schneeflocken wirkt beruhigend. Plötzlich steigt anstelle der rachsüchtigen Meerfrau Sedna die grosse Christusfigur mit dem lieben und mildtätigen Blick in ihr auf. Und sie erinnert sich an das warme Kerzenlicht, die Klänge des Harmoniums und die schönen alten Kirchenlieder. Vielleicht kann ihr Christus helfen. Dieser tröstliche Gedanke gibt ihr Kraft zum Überlegen. Was soll sie machen? Ohne warme Kleider wird sie erfrieren. Haruk in der Eiswüste zu suchen, scheint zu gewagt. Usnea ist keine böse Frau. Sie will ihr nichts Leides tun. Ajatuk beschliesst, zu Usnea zurückzukehren und ihr zu sagen, dass sie keine Schamanin werden wolle. Sie wird ihr auch erzählen, dass sie später an der Universität in Kopenhagen Medizin studieren möchte und sehr dankbar wäre, wenn Usnea ihr das Wissen über all die vielen Heilkräuter weitergeben könnte.