Dienstag, Mai 12

Teil 14

Die Nacht war dunkel, der Mond war nirgendwo zu sehen und doch glitzerte das Wasser der dampfenden Quelle. Am Himmel waren immer noch die grünlich verblassenden Polarlichter, die Schleifen zogen und sich im Unendlichen verloren. Hie und da hörte man ein Heulen eines Wolfes, das sich aber in der Ferne verlief, manchmal raschelte es ganz in der Nähe, der Schnee knirschte und doch war nichts zu sehen. Die Schwingen einer Eule huschten durch die kalte Luft. Ajatuk fühlte die wohlige Wärme fast schon Hitze der Quelle, und die eisige Kälte im Gesicht liess sie nicht dämmern oder dösen. Ihr Verstand war glasklar, sie nahm die Umwelt wie auf mehreren Ebenen wahr. Usnea war neben ihr im heiss dampfenden Wasser, sie hatte begonnen in rhythmischen Tönen zu summen, das Gleichmass des Taktes wirkte beruhigend. Sie schaute in den Himmel zu den Sternen. Da begann es leise zu schneien, die Schneeflocken schillerten grünlich, jede Flocke sah anders aus und es schien als wollten sie Ajatuk etwas mitteilen.
Ajatuk verliess plötzlich ihren Körper und ein Etwas von ihr wandelte gegen den Sternenhimmel. Es wurde heller und heller, grelles Licht blendete sie und doch fühlte sie sich in einem Gleichgewicht, das ihr Kraft gab. Sie verspürte keine Angst nur eine tiefe Sehnsucht nach Horak und dessen Verbleib musste sie nun herausfinden. Das war ihre Aufgabe und ihr Ziel.
Vertraut sass sie neben ihrer Grossmutter, die vor fünf Jahren gestorben war und plauderte mit ihr wir früher. Sie konnte ihr immer alle ihre Kümmernisse erzählen und es fand sich immer ein Weg zum Guten. Dann sah sie ihren, bei der Jagd verstorbenen Onkel, ein Bruder ihrers Vaters. Auf einer Eisbärjagd hatte er sich verheddert mit dem Hundeschlitten und wurde eine lange Strecke mitgeschleift und schwer verletzt. Er erholte sich nicht mehr und starb. Auch mit ihm konnte Ajatuk sich ungezwungen unterhalten. All die dunklen kalten Wintermonate hindurch hatte er Geschichten erzählt, er hatte ihnen die Mythen und Legenden der Inuits nahe gebracht und wortgewaltig vorgetragen. Die Inuits waren stolz auf ihre Geschichte. Ajatuk traf weiter eine Schulkollegin, die an Tuberkulose gestorben war und ihre vertrauteste Freundin war. Sie kicherten zusammen wie eh und je. Ajatuk wandelte weiter ins Licht hinein und plötzlich stand sie vor einer verschlossenen Tür. Sie klopfte, stemmte ihren Körper dagegen und flehte mit feiner Stimme um Einlass. Ajatuk erlahmte, wurde mutlos und wollte aufgeben.
Da hörte sie wieder Usneas beruhigenden Singsang neben sich und wusste ganz klar, dass sie diese letzte Ebene erklimmen wollte, sie fühlte die Kraft ihres ganzen Stammes in sich, sie zog tief die heisse Luft der Quelle ein und fühlte sich tief unten auf dem Meeresgrund bei der grossen Göttin Sedna. Sie musste ihre schwarzen langen Haare kämmen, die durch die Ungerechtigkeiten der Menschen ganz verkrustet waren, sie brauchte ihre letzten Kräfte, um Sedna zufriedenzustellen. Und endlich spürte sie wieder die feuchte Schnauze Horaks an ihrer Hand und sah einen verschwommenen fluoreszierenden Eisbären in grosser Gefahr. Er war verletzt in einer tiefen Eisspalte. Seine verzweifelten Augen suchten die ihren und schienen fast zu brechen. Mit einem Ruck kehrte Ajatuk in die reale Welt zurück. Sie sass immer noch in der heissen Quelle, neben ihr Usnea, die sie mit gütigen, wissenden und auch freudigen Augen anschaute. Es schneite immer noch, zum Glück hatte Usnea ein kleines Feuer gemacht, wo auch ihre Kleider lagen.
Die Worte Ajatuks übersprudelten sich, doch Usnea legte ihre faltige Hand über Ajatuks Mund und sagte leise:"Ich weiss, wir müssen jetzt handeln".