Mittwoch, Juni 10

Teil 8


Nachdenklich fliegt Flocki weiter. Schliesslich kommt sie zu einem kleinen Dorf. Alles schläft. Da öffnet sich leise knarrend die Tür einer armseligen Hütte und ein junger Mann schleppt sich ins Freie. Jeder Schritt tut weh. Er ist voller eiternder Ekzeme. Ghotam steigt auf einen alten Töff, der ihn nach Kalkutta bringen soll. Nach einer dreistündigen holprigen, äusserst schmerzhaften Fahrt erreicht er das Armenviertel der Stadt, wo ein weisser Ambulanzbus steht. Bereits wartet eine lange Menschenschlange. Die Sonne flimmert. Hustend und abgemagert bis auf die Knochen steht Ghotam in der Reihe und vermag sich kaum auf den Beinen zu halten. Andere Patienten dösen auf der staubigen Strasse. Kindern wimmern in den Armen abgemagerter Mütter. In Handkarren werden weitere Kranke herangeführt. Die Schlange der Wartenden wird immer länger. Nun kommt ein Arzt mit Stempel und Stempelkissen. Ein Abdruck mit Datum auf dem Unterarm dient als Eintrittsbillet. Zweihundertfünfzig Patienten können berücksichtigt werden. Der Rest muss wieder nach Hause geschickt werden. Ghotam gehört zu den Glücklichen, die heute drankommen. Er kennt den Arzt und der Arzt kennt ihn. Er ist einer von weltweit mehr als zehn Millionen Tuberkulosepatienten, wobei ungefähr jeder Vierte in Indien lebt. Im Jahr 2016 sind 1,3 Millionen Menschen daran verstorben. Vor zwei Jahren war er wegen Tuberkulose behandelt worden. Während sechs Monaten musste er gewissenhaft die vorgeschriebenen Medikamente einnehmen. Obschon er eindringlichst über die Wichtigkeit einer regelmässigen Einnahme aufgeklärt worden ist, obschon ihn speziell ausgebildete Frauen in seinem Dorf während der Behandlungszeit besucht hatten, vergass er immer wieder die Pillen. Dass Ghotam nun wieder vorstellig wird, gefällt dem Mediziner nicht, muss er doch befürchten, dass der Patient vermutlich an multiresistenter Tuberkulose leidet. Unbehandelt wird jeder zweite Infizierte einen schleichenden Tod sterben. Mittels eines Gentests könnte innerhalb von zwei Stunden herausgefunden werden, ob eine Therapie erfolgversprechend ist. Da jedoch so viele Menschen auf diese schlimme Seuche abgeklärt werden müssen, wird es Wochen dauern, bis ein Resultat da ist und Ghotam wird in seinem Dorf weitere Menschen mit dem krankmachenden Mycobacterium tuberculosis anstecken.

Vier Stunden später besteigt der Doktor mit zwei Helferinnen einen Jeep, der sie in eine enge Gasse führt. Überall finden sich Müllhaufen, in denen magere Schweine und Menschen nach etwas Essbarem wühlen. Es stinkt fürchterlich. Am Rand stehen einige windschiefe Baracken, in denen Patienten hausen, die an Tuberkulose leiden. Ohne regelmässige Begleitung und dauernde Überzeugungsarbeit würden nur wenige der Kranken ihre gesamthaft 15 000 Pillen einnehmen. Die Menschen sind mausarm. Die meisten haben keine Arbeit und wissen nicht, was sie am anderen Tag essen können.

Flocki ist erschüttert, als sie das im wahren Sinne des Wortes zum Himmel stinkende Elend gewahr wird. Muss das sein?! Nein, das muss nicht sein! Das darf nicht sein!