Nachdenklich fliegt
Flocki weiter. Schliesslich kommt sie zu einem kleinen Dorf. Alles schläft. Da
öffnet sich leise knarrend die Tür einer armseligen Hütte und ein junger Mann
schleppt sich ins Freie. Jeder Schritt tut weh. Er ist voller eiternder Ekzeme. Ghotam steigt auf einen alten Töff, der ihn nach Kalkutta
bringen soll. Nach
einer dreistündigen holprigen, äusserst schmerzhaften Fahrt erreicht er das
Armenviertel der Stadt, wo ein weisser Ambulanzbus steht. Bereits wartet eine
lange Menschenschlange. Die Sonne flimmert. Hustend und abgemagert bis auf die
Knochen steht Ghotam in der Reihe und vermag sich kaum auf den Beinen zu
halten. Andere Patienten dösen auf der staubigen Strasse. Kindern wimmern in
den Armen abgemagerter Mütter. In Handkarren werden weitere Kranke
herangeführt. Die Schlange der Wartenden wird immer länger. Nun kommt ein Arzt mit
Stempel und Stempelkissen. Ein Abdruck mit Datum auf dem Unterarm dient als
Eintrittsbillet. Zweihundertfünfzig Patienten können berücksichtigt werden. Der
Rest muss wieder nach Hause geschickt werden. Ghotam gehört zu den Glücklichen,
die heute drankommen. Er kennt den Arzt und der Arzt kennt ihn. Er ist einer von
weltweit mehr als zehn Millionen Tuberkulosepatienten, wobei ungefähr jeder
Vierte in Indien lebt. Im Jahr 2016 sind 1,3 Millionen Menschen daran
verstorben. Vor zwei Jahren war er wegen Tuberkulose behandelt worden. Während
sechs Monaten musste er gewissenhaft die vorgeschriebenen Medikamente
einnehmen. Obschon er eindringlichst über die Wichtigkeit einer regelmässigen
Einnahme aufgeklärt worden ist, obschon ihn speziell ausgebildete Frauen in
seinem Dorf während der Behandlungszeit besucht hatten, vergass er immer wieder
die Pillen. Dass Ghotam nun wieder vorstellig wird, gefällt dem Mediziner
nicht, muss er doch befürchten, dass der Patient vermutlich an multiresistenter
Tuberkulose leidet. Unbehandelt wird jeder zweite Infizierte einen
schleichenden Tod sterben. Mittels eines Gentests könnte innerhalb von zwei
Stunden herausgefunden werden, ob eine Therapie erfolgversprechend ist. Da
jedoch so viele Menschen auf diese schlimme Seuche abgeklärt werden müssen, wird
es Wochen dauern, bis ein Resultat da ist und Ghotam wird in seinem Dorf
weitere Menschen mit dem krankmachenden Mycobacterium tuberculosis anstecken.
Vier Stunden später
besteigt der Doktor mit zwei Helferinnen einen Jeep, der sie in eine enge Gasse
führt. Überall finden sich Müllhaufen, in denen magere Schweine und Menschen nach
etwas Essbarem wühlen. Es stinkt fürchterlich. Am Rand stehen einige
windschiefe Baracken, in denen Patienten hausen, die an Tuberkulose leiden.
Ohne regelmässige Begleitung und dauernde Überzeugungsarbeit würden nur wenige
der Kranken ihre gesamthaft 15 000 Pillen einnehmen. Die Menschen sind mausarm.
Die meisten haben keine Arbeit und wissen nicht, was sie am anderen Tag essen
können.
Flocki ist
erschüttert, als sie das im wahren Sinne des Wortes zum Himmel stinkende Elend
gewahr wird. Muss das sein?! Nein, das muss nicht sein! Das darf nicht sein!