Die Gegend wurde immer kärglicher, die Sonne brannte unerbärmlich auf sie nieder, sie waren schon einige Tage unterwegs. Bernardo hatte schreckliche Blasen an den Füssen und schlurfte mehr als dass er ging.
Sein Onkel wurde nicht müde, ihm Geschichten der Seidenstrasse zu erzählen, von den Überfällen der Mongolen auf die Karawanen aus China, auch von Marco Polo erzählte der Onkel. Marco Polo war auf der antiken Seidenstrasse mit grossen Strapazen nach China gelangt. Auf dem Seeweg kam er vor kurzem zurück nach Venedig, beladen mit unermesslichem Reichtum, Edelsteinen und Gewürzen, Seidenstoffen, Porzellan etc. Bernardo staunte, aber dann kehrten sie wieder zu tiefergreifenden Themen zurück, zum christlichen Glauben.
Diese Nacht übernachteten sie in einer sauberen Karawanserei, einer ummauerten Herberge an den Karawanenstrassen, unweit Aleppo und in der Nähe des Simeonklosters. Hier konnten die Reisenden sicher nächtigen und sich verpflegen. Der grosse Innenhof diente oft auch als Warenlager und als Handelsplatz für die Reisenden, hier wurden Geschäfte abgeschlossen. In der Mitte dieses Innenhofes stand ein kleiner unscheinbarer Baum. Der Onkel nahm Bernardo bei der Hand und sie setzten sich zu Fusse des kleinen knorrigen mit spitzen Dornen bewehrten Baumes und der Onkel erzählte: "Dies ist ein Myrrhenbaum. Nach der Regenzeit wachsen diesem Baum kleine dreiteilige Blätter und gelborange Blütenstände. Aus den Blüten reifen rote Beeren. Wenn die Baumrinde verletzt wird tritt ein Milchsaft aus der Rinde, dieser eintrocknende gelblichbraune Saft ist das aromatisch riechende Myrrhenharz. Eine Tinktur aus diesem Harz wirkt desinfizierend und wundheilend." "Diese Tinktur werden wir jetzt erhandeln hier und dann auf deinen Blasen an den Füssen auftragen und morgen wird es bereits besser sein."
Eine kleine Gruppe interessierter Händler hatte sich zu ihnen gesetzt und sie verfolgten gespannt die Auslegungen des Onkels. Dieser fuhr weiter:" Der wissenschaftliche Name ist Commiphora molmol, und heisst Klebstoff tragend und sehr bitter. Vermutlich wurde er zur Leichenbalsamierung gebraucht.
Der Baum produziert die Myrrhe, ein Harz, um sich gegen Eindringlinge zu schützen und Wunden zu verschliessen. Bereits vor 3000 Jahren tauchte er in Schriften auf, später wurde die Myrrhe für kultische Räucherungen gebraucht.Die Ägypter opferten dem Sonnengott Ra. Ägypter und Juden brauchten Myrrhe auch zum Einbalsamieren ihrer Toten. Auch in der griechischen Mythologie ist die Myrrhe erwähnt. Smyrna verführte nämlich, verzaubert durch Aphrodite, ihren Vater Kinyras, Priester und König von Zypern. Ihr Vater wollte sie töten, als er dies erführ, aber die Götter verwandelten Smyrna in einen Myrrhenbaum, sie weinte bittere Myrrhentränen. Nach 9 Monaten gebar sie Adonis.
Auch die Bibel erwähnt Myrrhe mehrmals, Die drei heiligen Könige brachten dem Jesuskind Weihrauch, Myrrhe und Gold als Geschenk. Myrrhe hat die symbolische Bedeutung für Leiden. Jesus bekam am Kreuz einen mit Myrrhe gewürzten Wein zu trinken. Auch heute trinken die Griechen noch den geharzten Retsina, und die Weinfässer wurden im alten Rom mit Myrrhe ausgeräuchert.
Die wundheilende Wirkung war überall bekannt und Myrrhe wurde für Geschwüre, Eiterungen und Wunden verwendet."
Nun sprachen alle durcheinander, jeder wollte mehr wissen über diese Myrrhe, einige erzählten ihre Geschichten, die sie mit diesem Heilmittel erreicht hatten.
So senkte sich die Nacht über die Karawanserei, die Sterne leuchteten auf, ein wundervoller Sternenhimmel war über ihnen und die müden Pilger und Handelsreisenden mit ihren Tieren, Kamelen, Eseln, Pferden begaben sich zur Ruhe. Auch Bernardo und sein Onkel legten sich nieder. Morgen wird ein interessanter Tag verhiess ihm sein Onkel.
Am nächsten Morgen machten sich Bernardo, sein Onkel und der frisch beladene Esel auf den Weg nach Aleppo. Bernardos Füsse waren fast schon genesen und mit jugendlichem Schritt ging er voran. Bald schon trafen sie auf die Zitadelle Qal'at Sim'an, ein frühbyzantisches Kloster und eine bedeutende Pilgerstätte. Hier wirkte und starb 459 der erste christliche Säulenheilige Simeon. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde Simeon auf seiner Säule, von der er sich nie herunterbegab aufgesucht und um Rat gefragt. Er lebte auf einer zwei mal zwei Meter grossen Plattform auf der 18 Meter hohen Säule. Nach seinem Tod baute der römische Kaiser Zeno eine prächtige Wallfahrtsanlage und später enstand eine gewaltige Kirchenanlage. Im 12. Jahrhundert wurde eine Zitadelle zur Verteidigung gebaut und die ganze Anlage mit einer Mauer umgeben. Später zerfiel die Anlage, aber der heilige Ort blieb bestehen.
Bernardo und sein Onkel bestaunten die riesigen Ruinen dieser Wallfahrtsanlage, die grosse dreischiffige Basilika, die Taufkapelle, den säulengeschmückten Torbogen. Von der Simeonssäule war nur noch ein grosser Steinstumpf übrig. Im Laufe der Jahrhunderte hatten die Pilger Stück für Stück dieser Säule abgetragen und kleine Steine aus der Säule herausgehauen und als Relikt mitgenommen. Ehrfürchtig durchschritten die beiden den heiligen Ort und sammelten sich dann am Ausgangstor für die weitere Reise.