Dienstag, April 28

Teil 11

Usnea geht noch rasch in ihre Kräuterküche und packt einige stärkende Kräutertrunks und Kräuter ein. Sie vergisst nicht etwas von der seltenen Flechte Dictyonema huaorani mitzunehmen. Diese Flechte wurde erst neulich entdeckt und hat psychodelische Wirkung dank des Psilocybins. Usnea hat ein kleines Stückchen davon von einem Schamanenfreund aus Kanada erhalten. Dieser Freund hat die Flechte von einem indiogenen Schamanen aus dem Amazonasgebiet in Ecuador geschenkt bekommen. An einem grossen Schamanentreffen hatten sie die halluzinogene Wirkung von Dictyonema huaorani ausprobiert und über diese spezielle Flechte erfahren, dass sie schon lange bekannt und katalogisiert war, aber die halluzinogene Wirkung war lange nicht bekannt. Usnea wollte die Wirkung einmal selbst ausprobieren. Sie zog ihr dickes Robbenfellkleid an und kehrte zu Ajatuk zurück.
Auch Ajatuk zog sich die warmen Kleider über, schob ihre schwarzen Haare unter die dicke Fellmütze und schlüpfte in die Fellschuhe. Ihre Erfrierungen an Händen und Füssen waren glücklicherweise nur gering und taten nicht mehr weh. Sie wusste gar nicht mehr wie lange sie schon von zuhause weg war, ihr Geburtstag musste vor einigen Tagen gewesen sein. Ob sich ihre Eltern wohl um sie sorgten? Doch jetzt war es wichtig, Horak zu suchen, was wohl mit ihm passiert war, wo war er?

Unterdessen hatten ihre Eltern, die in grosser Sorge um Ajatuk waren bereits mit der Suche begonnen. Sie hatten überall in Thule herumgefragt, sie waren auch in Usneas Iglu-Hütte, aber niemand war dort. Ein grosser Suchtrupp wurde zusammengestellt. In Zeiten der Not standen die Inuits immer zusammen und halfen einander.

Ajatuk und Usnea schritten geeint aus dem Haus, jedes in seine eigenen Gedanken versunken. Die Sonne stand flach am Himmel, es würde bald dunkel werden, auch wenn die Nächte jetzt immer kürzer wurden war es sehr kalt. Es fegte immer noch ein eisiger Wind über die glitzernde Schneeebene. Sanft stiegen einige Hügel an in der Ferne. Büsche und Sträucher sahen bereits aus dem Schnee hervor, hinten stand dunkel der Wald. Die beiden Frauen eilten Richtung Wald und Ajatuks Stimme durchdrang die Kälte: "Horak, Horak komm zurück, wir brauchen dich!" Doch keine feuchte Schnauze berührte Ajatuk noch hörte sie das vertraute Schnaufen ihres Eisbären, nur das Knirschen ihrer Schritte war hörbar und der Dampf der Ausatemluft war sichtbar. Sie stapften weiter bergan, das Licht wurde fahler und schon bald senkte sich die Dunkelheit über den Wald. Als Ajatuk kaum mehr vorwärts kam, hielten sie kurz an und nahmen einen kleinen Trunk zu sich, dies gab ihnen neue Kräfte weiterzukommen.
Plötzlich begann der Himmel aufzuklaren, ein grünlich schimmerndes Licht erschien vom Rande her und bereitete sich über ihren Köpfen aus, herumschweifend in immer neuen Formen. Ajatuk kannte die Polarlichter, produziert von Sonnenstürmen. Eine Lehrerin hatte einmal gesagt, man könne sich Polarlichter wie einen Luftkuss vorstellen, den die Sonne an die Erde sendet und der in Form von bunten Lichtern am Himmel sichtbar wird. Usnea dachte an all die Mythen und Legenden, die über die Polarlichter existierten, dass es sich um Seelen der verstorbenen Ahnen handelte oder um die Geister, der bei der Jagd getöteten Tiere. Usnea glaubte fest, dass man die Aurora auffordern könne, mit den Ahnen zu kommunizieren. Sollte sie dies versuchen? Doch sie erinnerte sich an das Gespräch mit Ajatuk und ihr Versprechen, ihr zu helfen. Sie hielt sich zurück und stapfte weiter im Schnee, Ausschau haltend nach einem Zeichen von Horak.